9/11: Wie eine Überlebende es aus dem World Trade Center schaffte (2024)

Interview

Janice Brooks arbeitete am Morgen des 11.Septembers 2001 im Südturm des World Trade Center in New York – genau da, wo nach dem Einschlag des zweiten Jets ein riesiges Loch klaffte. Sie erzählt, wie sie es aus dem Gebäude schaffte.

Christof Leisinger

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9/11: Wie eine Überlebende es aus dem World Trade Center schaffte (1)

Janice Brooks, Sie waren zur Zeit des Attentats im New Yorker World Trade Center. Was haben Sie dort gemacht?

Ich arbeitete damals als Sekretärin für den Wertpapiermakler Euro Brokers und war schon etwa um 7 Uhr 30 im Büro in der 84.Etage des Südturms, weil ich den in London weilenden Chefs Unterlagen faxen musste. Wie an einem ganz normalen Morgen holte ich mir danach erst einmal Frühstück, hielt ein Schwätzchen in der Cafeteria und kehrte schliesslich an den Schreibtisch zurück.

Wie machten sich die weiteren Ereignisse bemerkbar?

Als ich etwas später unseren Geschäftsführer in London anrufen wollte, hörte ich einen dumpfen Schlag. Da aber mein Büro nach Süden ausgerichtet war, so dass ich auf die Freiheitsstatue heruntersehen konnte, befand ich mich praktisch auf der anderen Seite des Geschehens und bemerkte nur etwas Staub und ein paar Papierfetzen in der Luft. Das beunruhigte mich zunächst nicht, weil in dieser Zeit in New York wie wild gebaut wurde und man so etwas gewohnt war.

Etwa fünf Minuten später rief plötzlich eine laute Männerstimme dringlich: «Alle raus!» Ich zögerte und wollte erst einem meiner Chefs in London Bescheid geben. Ich erklärte ihm, um die Ecke scheine etwas passiert zu sein und dass wir nun das Gebäude verliessen.

Er reagierte impulsiv: «Es ist etwas passiert? – Zur Hölle, Janice, ein Flugzeug ist in das Nachbargebäude geflogen, hau ab!» Er hatte den Fernseher laufen und wusste aufgrund der Live-Berichterstattung in London besser Bescheid als wir im Südturm, was im nördlichen Zwillingsgebäude praktisch 200 Meter hinter meinem Rücken gerade geschah. Seine Panik traf mich ins Mark.

Machten Sie dann, was er sagte?

Ja, ich nahm meine Handtasche und lief los. Die meisten Büros waren leer, nur in einem kleineren Besprechungsraum waren drei junge Männer. Sie lächelten und schienen nicht beunruhigt zu sein, selbst als ich ihnen sagte, was ich wusste. Ich erinnere mich daran, dass es leicht nach Kerosin roch und mein Chef gesagt hatte, ich solle mich von den Fenstern fernhalten. Unentschlossen rannte ich in den Hauptkorridor, wo mir ein Kollege mit «Komm, Janice – runter mit dir» die Entscheidung abnahm und mich ins Treppenhaus trieb.

Die Treppe war bereits voll mit Leuten, die von oben herunterkamen. Sie unterhielten sich, scherzten und waren entspannt. Ein Kollege von Euro Brokers hatte die Stufen kurz vor mir betreten, und ich ging mit ihm zusammen, obwohl ich ihn kaum kannte. Ich trug lächerlich hohe Stöckelschuhe, und da er meinte, es ginge schneller, wenn ich sie auszöge, steckte ich sie in meine Tasche und ging barfuss weiter.

Es ging also alles reibungslos?

Nein, denn als wir in den 72.Stock kamen, forderte uns die Sicherheitsabteilung via Lautsprecher auf, an die Arbeitsplätze zurückzukehren, da das Gebäude sicher sei. Da die Lifte nicht in Betrieb waren, versuchten wir entgegen dem Menschenstrom wieder nach oben zu gehen. Wir waren jetzt etwa sieben Personen. Nach rund zehn Minuten verliessen wir das Treppenhaus und betraten einen Verbindungsgang. Plötzlich spürte ich einen dumpfen Schlag und fühlte, wie das Gebäude etwa fünf Sekunden lang bebte.

Was passierte dann?

Ein Mann versuchte, die Türen vor und hinter uns zu öffnen, aber beide waren durch herabgefallenen Schutt blockiert. Dann hörte ich den markerschütternden Schrei einer Frau, männliche Hilferufe und ein verzweifeltes Klopfen. Schliesslich fanden wir eine weitere Tür, räumten die Trümmer beiseite, bis sie sich etwas öffnete und sechs geschockte, benommene Menschen durchschlüpften. Alle waren blutverschmiert, und die Frauen weinten.

Der Arm einer Frau war von der Schulter bis zum Ellbogen aufgeschnitten, so dass man sogar den Knochen sehen konnte, und die Haut hing herunter. Einer der Männer zog sein T-Shirt aus und verband ihr damit die Wunde. Sie hatte auch einen verletzten Fuss, Glas in den Haaren und Schnitte im Gesicht. Ein Mann hatte überall an seinen Armen Schnittwunden, ein anderer ein blutverschmiertes Hemd.

Was war geschehen?

Einer der Männer erzählte, er habe ein lautes Zischen gehört, aufgeschaut und einen riesigen Feuerball gesehen, der vom anderen Gebäude auf sie zugekommen sei, und dass alle Fenster geborsten seien. Ich realisierte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ein zweites Flugzeug in den Südturm geflogen war. Mein erster Gedanke war, dass der Nordturm umgestürzt sei und uns im Südturm getroffen habe.

Nun gab es sicher kein Halten mehr?

Nein. Wir versuchten zunächst, die vom Schutt blockierte Tür zu öffnen. Gemeinsam schoben wir das Zeug beiseite, aber als sie sich schliesslich öffnen liess, waren die Treppenstufen verschwunden, und man sah nur noch Rauch und Flammen in der Dunkelheit. Gott sei Dank fanden wir doch noch ein weiteres Treppenhaus, das gut beleuchtet, aber mit den Brocken der Deckenverkleidung, Draht, Putz und Beton übersät war. Aus einem gebrochenen Rohr floss Wasser hinunter, was die Treppe sehr rutschig machte. Ich weiss noch, dass ich husten musste und dass sich meine Füsse klebrig und nass anfühlten.

Nach etwa sechs Umläufen des Treppenhauses lichtete sich der Staub, und es war fast totenstill. Alles, was ich hören konnte, waren hustende Menschen und eine weinende Frau. Sie erzählte mir, sie habe Asthma und müsse immer wieder anhalten, um tief einzuatmen. Die Frau mit dem verletzten Arm vor mir stand offensichtlich unter Schock. Sie sagte immer wieder, sie werde am Freitag umziehen, und jammerte, sie werde ihrem Mann mit einem kaputten Arm wohl nicht helfen können.

Waren im Treppenhaus auch Rettungskräfte unterwegs?

Wir sahen niemanden, bis wir ungefähr im 8.Stockwerk waren. Da trafen wir auf drei Feuerwehrmänner, die hinaufgingen. Sie schienen uns zu mustern und stellten wahrscheinlich fest, dass wir uns selbst fortbewegen konnten. Daraufhin gingen sie weiter, ohne ein Wort zu sagen.

Gab es keine weiteren Anzeichen von Panik?

Doch, etwa zehn Umläufe, bevor wir den Ausgang erreicht hätten, blieb die Frau vor mir stehen, begann laut zu weinen und unkontrolliert zu zittern. Ihr Fuss tat offensichtlich so weh, dass sie nicht mehr weitergehen konnte. Sie müsse sich ausruhen, wir sollten sie allein lassen und Hilfe schicken, sagte sie. Aber der mir früher nicht bekannte Kollege von Euro Brokers nahm die Frau ohne viel Aufhebens huckepack und trug sie bis ganz nach unten.

Wie sah es unten aus?

In der Eingangshalle herrschte Chaos. Mitarbeiter der Hafenbehörde lotsten uns Richtung Ausgang, während uns ständig Feuerwehrleute und Polizisten entgegenkamen. Wir verliessen schliesslich das World Trade Center auf der Südseite. Dort wurde die Frau mit dem verletzten Arm in ein medizinisches Notfallzentrum gebracht, das auf der Plaza eingerichtet worden war. Ein Polizist forderte mich und Bob Mahon, den Kollegen von Euro Brokers, schliesslich auf, nicht nach oben zu schauen, nicht zurückzublicken und vorwärtszugehen.

Wann realisierten Sie, was wirklich passiert war?

Lower Manhattan wurde offensichtlich evakuiert, und die Rettungsdienste leiteten alle über die Brücke nach Brooklyn. Wir dagegen wollten durch die Menschenmassen zu meiner Wohnung im nahe liegenden Battery Park gelangen. Bob fragte mich, wie spät es sei... Es war 9 Uhr 43. Da blickte ich zum ersten Mal zum World Trade Center hinauf und konnte nicht glauben, was ich sah. Wo unser Stockwerk einmal war, klaffte ein riesiges Loch, das Gebäude stand in Rauch und Flammen. Ich kämpfte plötzlich mit Brechreiz und weinte auf dem ganzen Weg nach Hause. Ich ging barfuss durch die Strassen, hielt Bobs Hand und weinte.

NZZ / bam.

Was taten die anderen?

Die Strassen waren voll. Anstatt Lower Manhattan zu verlassen, liefen die Leute einfach nur herum und wussten nicht, was sie tun sollten. Überall waren Polizisten und Rettungskräfte, die die Leute immer noch in Richtung Brooklyn Bridge trieben. Der Park gegenüber meinem Wohnblock am Rector Place war voller Menschen, die in kleinen Gruppen herumstanden, sich unterhielten und schockiert auf die brennenden Türme blickten.

Wie bekamen Sie mit, dass die Türme einstürzten?

In meiner Wohnung im 17.Stock versuchte ich, meine Familie und meine Freunde in Florida zu erreichen. Ich kam jeweils durch, aber die Verbindung wurde jedes Mal nach kurzer Zeit unterbrochen.

Dann stürzte der erste Turm ein. Ich hörte das Rumpeln, lange bevor ich etwas sah. Erst dachte ich, es sei ein weiteres Flugzeug, schrie, duckte mich und wartete auf das unvermeidliche Krachen. Es gab eine kleine Staubwolke, ich sah etwas Papier vor meinem Fenster herumwirbeln, aber der Fernseher blieb an, und alles in der Wohnung funktionierte. Etwas später hörte ich dasselbe rumpelnde Geräusch wie zuvor – nur viel lauter. Dann war die Telefonleitung tot, der Fernseher flimmerte, ich spürte, wie sich das Gebäude bewegte, das Geschirr in der Spülmaschine begann zu klappern, und die Fenster vibrierten.

Eine Staubwolke von den eingestürzten Bürotürmen schien sich wie in Zeitlupe zu bewegen, und sie verdunkelte ein Fenster nach dem anderen, bis es schliesslich stockdunkel war und ich nicht einmal mehr meine Hand vor meinem Gesicht sehen konnte.

Sie konnten nicht in dem Gebäude bleiben?

Nachdem sich die Staubwolke gelegt hatte, war es auf der einen Seite meiner Wohnung wie an einem Sommertag aus dem Bilderbuch, auf der anderen Seite herrschten Chaos und Tod. Im Gebäude selbst funktionierte nichts mehr. Daraufhin beschloss ich schliesslich, mich durch den anfänglich fast kniehohen Staub und Schutt bis nach Queens durchzuschlagen. Es war 20 Uhr 55, als ich dort nach einer vierstündigen Odyssee bei einer Bekannten ankam.

Wie werden Sie mit dem Erlebten fertig?

Es ist nicht einfach. So etwas begreift nur, wer die Örtlichkeiten kennt und wem sich die furchtbaren Geräusche von menschlichen Körpern, die aus grosser Höhe auf den Boden knallen, oder die unverwechselbaren Gerüche von Rauch und Staub ins Gedächtnis eingebrannt haben. Gott sei Dank habe ich meine Familie und meine Freunde, die mich begleiten. Wenn ich meine Augen schliesse, bin ich sofort zurück, und ich denke auch an die 61 Arbeitskollegen, die ich verloren habe. Aber ich habe gelernt, damit umzugehen und meine Emotionen sowie meine Stimme zu kontrollieren – was mir in diesem Gespräch nicht immer gelungen ist.

Das Gespräch wurde von der Wohltätigkeitsorganisation Since 9/11 vermittelt. Sie hat das Ziel, die Erinnerung an das Geschehene wachzuhalten mit der Absicht, eine bessere, friedliche und harmonische Zukunft zu schaffen.

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